Schweiz : Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen

1.   Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen (deutsch)
2.   Einige philosophische Aspekte der Rheinauer-Thesen (Beat Sitter-Liver)
3.   Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen (Günter Altner)



1.   Pflanzen neu entdecken

Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen

Im Wissen darum, dass alle Lebewesen eine gemeinsame Herkunft haben,

in Erwägung, dass uns Pflanzen in ihrer Andersartigkeit letztlich immer ein Geheimnis bleiben werden,

im Bestreben, das Wesen der Pflanze tiefer zu ergründen und sie in ihrer Einzigartigkeit zu schützen,

formulieren wir die folgenden Thesen mit dem Ziel, die Pflanze um ihrer selbst willen zur Sprache zu bringen und Anspruchsrechte für sie geltend zu machen.


Die Pflanze

Pflanzen sind Lebewesen.

Pflanzen sind Tieren und Menschen verwandt. Alle haben wir unseren gemeinsamen Ursprung in einzelligen Lebewesen, die sich in einer fast drei Milliarden Jahre dauernden Evolution zu einer einzigartigen Vielfalt an Lebensformen differenziert haben.

Die gemeinsame Geschichte führt zu vielen Übereinstimmungen auf der Zellebene.

Doch Pflanzen sind zugleich anders als Tiere und Menschen. So sind sie etwa ortsgebunden und betreiben Photosynthese. Sie schaffen die Grundlage für die Ernährung von Tier und Mensch.

Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, sie zu vermenschlichen. Pflanzen sind auch keine ‚langsamen’ oder ‚niedrigen’ Tiere, sondern eine eigene Lebensform.

Wie alle Lebewesen reagieren Pflanzen auf ihre sich dauernd verändernde Umwelt. Sie kommunizieren miteinander und mit anderen Lebewesen, über und unter der Erde. Sie benützen dazu Duftstoffe und andere, vielfältige Signale. Ihr Wachstum und ihre Reaktionen auf die Umwelt sind keine ausschliesslich genetisch fixierten Reflexe. Pflanzen passen sich individuell an.

Über die Empfindungsfähigkeit von Pflanzen wissen wir noch sehr wenig. Zell- und Molekularbiologie liefern zwar Indizien, die eine Empfindungsfähigkeit möglich erscheinen lassen; komplette Indizienketten fehlen aber bisher. Zu behaupten, Pflanzen hätten kein Empfindungsvermögen und könnten keine Schmerzen verspüren, ist so spekulativ wie die gegenteilige Behauptung.

Weil wir nicht wissen, ob und wie Pflanzen Schmerzen empfinden, muss unser Umgang mit ihnen von Rücksicht geprägt sein.

Auch Pflanzen sind Individuen.

Pflanzen erleben die Welt auf ihre eigene Art. Sie haben ein Eigen-Sein. Sie leben als ein Selbst. Dieses Selbst ist für uns schwer verständlich. Dennoch erfahren wir, dass es existiert. Wenn Pflanzen als gänzlich verfügbare Objekte betrachtet und behandelt werden, so wird man ihnen damit nicht gerecht.


Pflanze und Umwelt

Pflanzen sind standortgebunden. Sie stehen daher mit ihrer Umwelt in einer ganz anderen Beziehung als Tiere und Menschen. Sie können ihrer Umwelt nur sehr begrenzt ausweichen, fliehen können sie nicht.

Pflanzen sind sehr anpassungsfähig. Sie stehen in einem permanenten Austausch mit der Umwelt. Sie leben in einem dynamischen Netz von Beziehungen und Wechselwirkungen, die sie weit mehr beeinflussen können als etwa Tiere.

Offensichtlich zeichnen sich Pflanzen durch ein Hin- und Herpendeln zwischen einem Aufgehen in der Umwelt und einem Sich-Zurückziehen in sich selber aus, sowie durch ein rhythmisches Pulsieren in Jahreslauf und anderen zeitlichen Phasen. Sie zeichnen sich aus durch einzigartige Verbreitungsmöglichkeiten, die weite Distanzen und lange Zeiträume zu überwinden vermögen.

Es ist deshalb unsere Pflicht, der Umwelt, von der die Pflanzen so stark abhängen und bestimmt werden, Sorge zu tragen.

Dabei ist zu beachten, dass die Beziehungen zwischen Genen und Umwelt nicht eingleisig verlaufen. Umweltfaktoren können die Expression von Genen derart beeinflussen, dass neue Eigenschaften stabil vererbt werden, ohne DNA-Sequenzen zu verändern. Eine reduktionistische Sicht, die sich allein auf Gene konzentriert, ist fragwürdig. Dies mahnt zur Vorsicht bei der Züchtung.


Pflanze und Mensch

Die menschliche Existenz hängt unmittelbar von Pflanzen ab. Viele Pflanzen können hingegen sehr gut ohne Menschen existieren.

Das Verhältnis zwischen Pflanzen und Menschen ist kulturell und historisch geprägt und daher, wie alles Kulturelle, für Veränderungen offen.

Pflanzen sind die Grundlage für unsere Ernährung. Insofern ist unsere Kultur von Pflanzen nicht zu trennen. Aus diesem Grund verdienen Pflanzen Achtung.

Für das emotionale Leben der Menschen sind Pflanzen wichtig. Ihr Duft, ihre Schönheit, ihre Hege und Pflege liegen uns am Herzen. Sie prägen unsere Gärten und Landschaften.

Wir müssen diese vielfältige Abhängigkeit und Verbundenheit der Menschen mit der Pflanzenwelt neu begreifen lernen. In Alltag und Kunst hat dies bereits begonnen. Auf naturwissenschaftlicher Ebene ist vieles noch nachzuholen.

Welche Beziehungen wir mit Pflanzen eingehen, hat Bedeutung für unsere eigene Lebensweise. Wie wir mit Pflanzen umgehen, reflektiert unseren Umgang mit anderen Lebewesen und mit uns selbst. Der Wert, den wir Pflanzen zuweisen, hängt mit unserem Selbstentwurf zusammen.

Wenn wir Pflanzen als Maschinen wahrnehmen, so sagt dies etwas über uns, die Betrachtenden, aus, nicht über das Wesen der Pflanze. Diese Maschinensicht dehnt sich auf alle Lebewesen – auch auf den Menschen – aus.

Anders als beim Menschen fehlen im Umgang mit Pflanzen oft genug moralische Bedenken.

Wir können das Wesen der Pflanze naturwissenschaftlich nicht vollständig erfassen. Erkenntnistheoretisch gibt es Grenzen. Wir stehen der Pflanze als ins Unermessliche Forschende gegenüber.

Wenn wir der Pflanze als eigenständigem Wesen begegnen und uns auf sie einlassen, entwickeln wir Sensibilitäten und Fähigkeiten, die es uns erlauben, sie in ihrem Dasein tiefer zu verstehen. In ihr und durch sie erleben wir etwas Umfassendes.

Unseren Umgang mit Pflanzen sollten nicht nur naturwissenschaftliche Argumente bestimmen. Die Naturwissenschaften sind nur ein Erkenntnisweg unter anderen, trotz ihrer Bedeutung für moderne Gesellschaften. Er ist nicht von vornherein wichtiger als andere Erkenntniswege.

Unsere Beziehungen zu Pflanzen spielen sich auf verschiedenen Ebenen ab: auf der naturwissenschaftlichen, der geisteswissenschaftlichen, der künstlerischen, auf der spirituellen, der intuitiven, der religiösen, der emotionalen und auf der ästhetischen Ebene, und natürlich auf der Ebene der Ernährung. Diesen und weiteren Wissenszugängen gegenüber gilt es offen zu sein.

Das neue Verständnis der Pflanze erfordert es, dass all diese Wissenszugänge anerkannt und genutzt werden.

Pflanzen haben eine enorme Flexibilität und können sich an sehr viele Manipulationen anpassen. Sie vermitteln uns auf den ersten Blick keine offensichtlichen Signale, wo die Grenzen ihrer Verletzbarkeit sind. Umso wichtiger ist, dass wir diese Grenzen gemeinsam finden. Nichtwissen verpflichtet.


Gestützt auf diese Thesen, gelangen wir vorerst zur folgenden Aufstellung von


Anspruchsrechten der Pflanze

Wenn wir Pflanzen Anspruchsrechte zugestehen, dann heisst dies nicht, dass wir sie nicht mehr essen oder in anderer Weise verwenden dürfen. So wenig wie die den Tieren zugestandenen Rechte bedeuten, sie grundsätzlich aus dem Ernährungskreislauf auszuschliessen. Es bedeutet vielmehr, dass wir ihr Eigensein respektieren und dass es auch im Umgang mit Pflanzen Grenzen gibt.

I. Recht auf Fortpflanzung
Methoden und Strategien, die eine Sterilität bewirken, erfordern moralische und ethische Rechtfertigung. Die Terminatortechnologie und weitere Methoden zur Herstellung von Sterilität mit dem ausschliesslichen Zweck, Pflanzen für die Maximierung von wirtschaftlichem Gewinn verfügbar zu machen, verstossen gegen dieses Recht.

II. Recht auf Eigenständigkeit
Pflanzen sind keine Sachen. Sie sollen nicht beliebig instrumentalisiert und kontrolliert werden. Ihre Eigenständigkeit ist zu berücksichtigen.

III. Recht auf Evolution
Evolution, im speziellen die Anpassungsfähigkeit von Pflanzen an eine sich verändernde Umwelt, beruht auf genetischer Vielfalt. Wird diese eingeschränkt, beeinträchtigt dies auch die Fähigkeit sich zu entwickeln. Deshalb ist heute neben dem Schutz der Artenvielfalt auch der Schutz der genetischen Vielfalt zu einer Verpflichtung geworden.

IV. Recht auf Überleben der eigenen Art
Der Schutz der vorhandenen Artenvielfalt und damit das Recht aller Pflanzenarten auf Überleben ergeben sich aus dem Wert der Biodiversität.

V. Recht auf respektvolle Forschung und Entwicklung
Dieses Recht erfordert, dass Forschung und Industrie in der Lage sein sollen, das Eigensein der Pflanze wahrzunehmen und ihm mit Achtung zu begegnen. Dies verlangt offene und interdisziplinäre Herangehensweisen. Es schliesst aus, dass Pflanzen als uneingeschränkt verfügbare Sachen gelten.

VI. Recht darauf, nicht patentiert zu werden
Pflanzen sind keine Erfindungen. Keine Pflanze verdankt ihre Existenz allein menschlichem Wirken. Patente auf Pflanzen sind deshalb nicht nur aus sozioökonomischen Gründen abzulehnen, sondern auch um der Pflanzen selbst willen.

Die hier genannten Anspruchsrechte sind von Menschen formuliert worden. Sie gelten daher nur soweit sie im menschlichen Handeln beachtet, beziehungsweise durch dieses beeinträchtigt werden können. Denn niemand kann über sein Vermögen hinaus zu etwas verpflichtet werden.


Autorinnen und Autoren:

Florianne Koechlin, Projektinitiantin, Biologin, Blauen-Institut Basel, Autorin von ‚PflanzenPalaver’

Daniel Ammann, PD Dr., Geschäftsleiter der Schweizerischen Arbeitsgruppe Gentechnologie SAG

Eva Gelinsky, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin von ProSpecieRara

Benny Haerlin, Leiter des Berliner Büros der Zukunftsstiftung Landwirtschaft und der Kampagne „Save Our Seeds“

Martin Ott, Meisterlandwirt, Gut Rheinau, CH, Präsident Stiftungsrat FiBL (Forschungsinstitut für biologischen Landbau, Frick)

Beat Sitter-Liver, Prof. für Praktische Philosophie, Universität Freiburg (CH)

Werner Stumpf, Dipl.-Ing., Institut für Garten-, Obst- und Weinbau der Universität für Bodenkultur Wien

Edgar Wagner, Pflanzenphysiologe, Prof. em., Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg im Breisgau (D)

Amadeus Zschunke, Dipl.Ing. (FH) Gartenbau, Geschäftsführer Sativa Rheinau AG - ökologisches Pflanz- und Saatgut.

Unter Mitwirkung von:

Günter Altner, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. , Biologe und Theologe

Nikolai Fuchs, Leiter Sektion für Landwirtschaft, Freie Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach (CH)

Andrea Heistinger, Dipl.-Ing., Büro Semina-Kultur-Pflanzen-Konzepte, Schiltern (A)

Christian Hiss, Gärtnermeister, Eichstetten am Kaiserstuhl (D)

Markus Ritter, Biologe, Teilhaber LifeScience AG, Basel

Jürg Stöcklin, Prof. Dr., Botanisches Institut der Universität Basel



2.   Einige philosophische Aspekte der Rheinauer-Thesen

Beat Sitter-Liver, Rheinau, 6. September 2008 beat@sitter-liver.ch, «1001Gemüse&Co»

Die Rheinauer-Thesen fussen auf einer klaren philosophisch-ethischen Grundhaltung: Alles, was lebt, soll nicht vorweg auf seinen Nutzen für die Menschen betrachtet und bewertet werden. Zunächst soll es darauf hin untersucht und verstanden werden, was es von sich aus und für sich selber ist.

Diese Haltung schliesst nicht aus, dass wir Lebewesen, hier Pflanzen, zu unserem Nutzen und Gewinn verwenden; wohl aber steht dieser Zugriff nicht im Vordergrund, unsere Grundhaltung ist nicht utilitaristisch.

Sie zielt vielmehr darauf, allen Wesen, mit denen wir unsere Welt teilen, gerecht zu werden: Sie will Fairness verwirklichen.

Die Verankerung in einer religiösen Lehre ist dazu nicht erforderlich. Insbesondere bedarf es keiner schöpfungstheologischen Argumentation. Die Thesen als philosophische, dem Anspruch nach universal zu begründende, sind dem methodischen Atheismus verpflichtet.

Für den einzelnen Menschen, der sich letztlich in einem existenziellen Entschluss eine Grundhaltung zu eigen macht, schliesst dies eine andere Verankerung nicht aus. Nur darf er sich im philosophischen Diskurs nicht auf sie beziehen.

Dieser Diskurs bewegt sich nicht im luftleeren Raum. Er hält sich an Einsichten, die auf verschiedenen Wegen Erfassen und Verstehen von Pflanzen vermitteln, so besonders die Resultate naturwissenschaftlicher Forschung. Für die Rheinauer-Thesen ist dies kennzeichnend. Sie stützen sich auf die "modernen Konzepte der Biologie". Danach sind Pflanzen Wesen, denen es in ihrem Dasein um dieses selbst geht – nicht anders als Tiere und Menschen.

Pflanzen haben ein eigenes Gutes, das wir als vernünftige Wesen erfassen können, das hingegen in seiner Existenz nicht ursächlich von uns Menschen abhängt. Wir nennen diesen Wert, den erst wir zur Sprache bringen, Eigenwert.

Seit je leitet uns als moralische Wesen der ethische Grundsatz der Gleichbewertung und Gleichbehandlung von Gleichem – immer ist mitgedacht: soweit es nicht verschieden ist. (Das Recht der Gleichbehandlung schliesst stets das Recht auf Ungleichbehandlung ein, soweit Differenzen vorliegen.)

Gerade biologische Erkenntnisse machen verständlich, warum es nicht angemessen ist, Pflanzen bloss als Sachen anzusehen, mit denen man, auf eigenen Nutzen und Gewinn bedacht, nach Belieben umspringen darf. Umsicht, Rücksicht, Achtung und Fairness sind uns geboten, sofern wir beanspruchen, als moralische Wesen zu gelten.

Wir können uns diese ethische Forderung einprägen und immer neu in Erinnerung rufen, indem wir von der Würde der Pflanze sprechen.

Das heisst freilich nicht, dass wir Pflanzen nicht verwenden und gar vernutzen dürfen. Pflanzen sind für uns als Grundlage der Ernährungskette und als Lieferanten lebensnotweniger Stoffe unentbehrlich. Sie sind für uns da, damit wir sie verzehren und vielfältig verarbeiten können.

Dies freilich nie ohne vernünftige Grenzen.

Das führt uns in Schwierigkeiten. Doch neu ist dies nicht. Moralität, auf das sittlich Gute gerichtet, schafft Spannungen. Sie steht dem entgegen, was wir das Böse nennen, das wir verwerfen sollen. Unsere Menschenwürde bewähren und bewahren wir eben darin, dass wir dieser Herausforderung nachkommen, dass wir sie, die uns nicht selten in ein Dilemma stürzt, bewältigen.

Albert Schweitzer hat das oft genug hervorgehoben, exemplarisch mit jenem Passus, den heute spöttisch und vermeintlich kritisch zitiert, wer seiner existenziellen Tiefe nicht nachgesonnen hat:

«Was sagt die Ehrfurcht vor dem Leben über die Beziehungen zwischen Mensch und Kreatur?

Wo ich irgendwelches Leben schädige, muss ich mir darüber klar sein, ob es notwendig ist. Über das Unvermeidliche darf ich nicht hinausgehen, auch nicht in scheinbar Unbedeutendem. Der Landmann, der auf seiner Wiese tausend Blumen zur Nahrung für seine Kühe hingemäht hat, soll sich hüten, auf dem Heimweg in geistlosem Zeitvertreib eine Blume am Rande der Landstrasse zu köpfen, denn damit vergeht er sich an Leben, ohne unter der Gewalt der Notwendigkeit zu stehen.»

(Albert Schweitzer, Kultur und Ethik. München: Verlag C. H. Beck 1990, Nachdruck 1996, 340. Vgl. GS Bd. 2, 388.)

(Dass Schweitzer hier bloss ein Beispiel gibt für eine weit umfassendere, bedeutungsreiche und anspruchsvoll Ethik, die nicht selten zu wenig verstanden, aber zitiert wird, steht auf einem anderen Blatt. Vgl. Beat Sitter-Liver, "Ehrfurcht vor dem Leben" heisst sich auf die Welt im Ganzen beziehen, in: Michael Hauskeller (Hrsg.): Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph. Die Graue Edition, Kusterdingen 2006, 237-258.)



3.   Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen

Einführungsreferat von Günter Altner, Theologe und Biologe, am Workshop „Pflanzen neu entdecken“, Planet Diversity Kongress in Bonn, Mai 2008

Ich beziehe mich in meinen Ausführungen auf die These 21: “ Welche Beziehungen wir mit Pflanzen eingehen, hat Bedeutung für unsere eigene Lebensweise. Wie wir mit Pflanzen umgehen, reflektiert unseren Umgang mit andern Lebewesen und mit uns selbst. Der Wert, den wir Pflanzen zuweisen, hängt mit unserm Selbstentwurf zusammen.“

Die Beantwortung der Frage, was die Pflanzen für uns bedeuten, hängt davon ab, von welchem Selbstverständnis her die Begegnung mit Pflanzen stattfindet, ob wir uns unter dem Vorzeichen einer Religion nähern oder unter dem Vorzeichen der Philosophie oder der Wissenschaft oder der Kunst, wie dies in These 27 formuliert wird. Die Frage, die sich stellt, ist: Berühren sich diese verschiedenen Sichtweisen, überschneiden sie sich oder gibt es da so etwas wie eine Gemeinsamkeit, die bei der Auseinandersetzung mit der Molekulargenetik und Gentechnik in die öffentliche Diskussion gebracht werden könnte. Die Visionen und die gefühlsmässigen Annäherungen an Pflanzen sind in der Tat sehr verschieden. Ich will mit vier Beispielen zeigen, wie schwierig es ist, zu einer gemeinsamen Sicht zu kommen.

Zuerst möchte ich unterstreichen: In unserer Sprache spiegelt sich ganz allgemein das, was eine Pflanze ist, oder das, was wir an den Pflanzen als ähnlich oder verwandt oder fremd empfinden. Sprache ist korrelativ. Es gibt keine Beschreibung und Charakterisierung der Pflanzen an und für sich. Sie ist immer von unserer Empfindung und von unserem Verständnis geprägt. In unserer Sprache geht immer etwas vom Wesen der Dinge (belebt und unbelebt) ein. Die Sprache der Dinge verbindet sich mit unserer Sprache.

Als erstes Beispiel bringe ich den Zenmeister Taikaro Suzuki zu Wort, der sagt: „Die Blume kennen heisst, zur Blume werden, die Blume sein, als Blume blühen und sich an Sonne und Regen erfreuen. Wenn ich das tue, dann spricht die Pflanze zu mir und ich kenne ihre Geheimnisse, ihre Freuden, ihre Leiden, das heisst ihr ganzes Leben, welches in ihr pulsiert.“ Er schliesst daraus: „dann kenne ich mein eigenes Ich. Indem ich die Pflanze kenne, erkenne ich mich selbst. Wenn ich die Pflanze verliere, verliere ich auch mein eigenes Selbst so wie ich das der Pflanze verloren habe.“ Das ist auf den ersten Blick nichts für die praktische Anwendung. Man muss jetzt darüber reden, was der Zen-Meister von der Blume erfahren hat, was er von sich erfahren hat. Im Grunde genommen führt das zur Psychoanalyse. Die Pflanze wird zum Medium meiner Selbsterfahrung.

Als zweites Beispiel wähle ich Albert Schweitzer und sein Gebot zur Ehrfurcht vor dem Leben. Er formuliert dieses Gebot mit einem Satz, der ganz einfach erscheint: „ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Da ist kein ‚du sollst’, und ‚du musst’, sondern ein zweigipfliger indikativischer Satz. Albert Schweitzer hat dies Gebot in Konfrontation gegen René Descartes und seinem Erkenntnisdualismus, der den Mensch ins Gegenüber zur Natur stellt, propagiert. Wenn man sich fragt, was da bei Albert Schweitzer passiert ist, könnte man sagen, das Leben wird als geschenkt erfahren und diese Berührung öffnet den Menschen hin zu Mitmenschen und Mitkreatur in der Gestalt von Miterleben, Mitleiden und Teilhabe. Schweitzer geht davon aus, dass alles Leben ohne Unterschied einen Wert hat, der sich bei dieser Erfahrung eröffnet. Was das dann für die Praxis heisst, hat er so formuliert: „In keiner Weise erlaubt die Ehrfurcht vor dem Leben dem Einzelnen, das Interesse an der Welt aufzugeben, also sich in sich zurückzuziehen; die Ehrfurcht zwingt ihn, mit allem Leben um ihn herum beschäftigt zu sein und sich verantwortlich zu fühlen. Die Beschäftigung mit dem Leben läuft darauf hinaus, dass wir seine Existenz als solche erhalten, fördern und auf seinen höchsten Wert bringen.“ Das ist schon mehr Anleitung als bei Suzuki; es gestattet auch Veränderung und Züchtung. Auf jeden Fall ist die Pflanze „Mitleben“, das unsere ganze Achtung erfordert.

Ein dritter Entwurf ist die Methode der „Mitwissenschaft“, sowie sie der Philosoph Klaus Michael Meyer-Abich entwickelt hat. Die Mitwissenschaft fragt nicht nach den objektiven Seiten der Natur, sondern nur danach, wie wir mit ihr und ob sie mit uns zusammen ist und sich wechselseitig beeinflusst. Mit den Worten von Meyer-Abich: „dass Tiere, Pflanzen und die Elemente nicht nur unsere natürliche Mitwelt sind, sondern umgekehrt auch wir zu den natürlichen Mitleben der Dinge und Lebewesen gehören.“ Hier dominiert ein korrelativer Erkenntnisvollzug, der über die Objektivität der Dinge hinausführt. Da werden wir viel über die Pflanzen und über uns erfahren.

Der vierte Entwurf stammt von Viktor von Weizsäcker, Mediziner und Begründer der psychosomatischen Medizin: „ Leben erforschen heisst sich am Leben beteiligen.“ Viktor von Weizsäcker postulierte, dass der Patient nicht das Objekt des Arztes ist, sondern dass Arzt und Patient einen Menschen bilden, Bipole voneinander sind. Viktor von Weizsäcker vertrat die Meinung, dass die Konzentration auf die objektive Sicht des Lebens eine Zwangsneurose sei, eine pathogene Verdrängung des Eros im Verhältnis von Mensch und Mensch und Mensch und Natur. Also bedarf es doch der psychoanalytischen Aufklärung des auf Objektivität fixierten Erkenntnisneurotikers. Das tut auch den Pflanzen gut.

Ich fasse zusammen :

Es ist gar keine Frage: Jeder dieser vier verschiedenen Einfühlungs- oder Erkenntniswege lässt die Pflanze verschieden erscheinen. Es erscheint mir für die zukünftige Diskussion wichtig, dass wir diese verschiedenen Paradigmen oder Muster mit den Folgen, wie Pflanzen erscheinen, sorgfältig auf die Frage hin abtasten, ob wir in der öffentlichen Auseinandersetzung etwas Gemeinsames sagen können, von der Religion bis zur alternativen Wissenschaft. Es wird zum Beispiel schwierig, mit einem „normalen“ Biologen, dem wir gerade eine Zwangsneurose unterstellt haben, ins Gespräch zu kommen.

In den „Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen“ ist dieser Kompromiss gut zu spüren; ein Kompromiss, der zwischen den Elementen der offiziellen Biologie, die man hinüber nehmen könnte und den Elementen, die sich aus dem Kontext des gerade Vorgestellten ergeben, hin und her schwingt. Ein sehr guter Anfang. Aber da wird sehr vieles weiter zu klären sein. Auf jeden Fall sind die Pflanzen in ihrer relativen Menschenferne eine unumgängliche Herausforderung, unsere Naturnähe zu prüfen und in dialogische Sprachmuster zu überführen.